Das Leben
Wer mich schon kennt, weiß, dass ich immer mal wieder kreative Projekte habe, die nicht direkt mit der Heilpraxis zu tun haben. Da das Spektrum weit gefächert ist, nenne ich das Ganze "Anneheit". Nach langem Überlegen habe ich beschlossen, die Anneheit hier mehr öffentlich zu machen um zu zeigen, wie ich ticke.
Kurzgeschichte über Osteopathie
Sabine
„Was ich nicht verstehe, Klaus, ist, warum plötzlich jeder zum Osteopathen rennt“, ereiferte sich Sabine beim Abendessen. Beide saßen in der Küche an ihrem kleinen Tisch und aßen, da es mitten in der Woche war, Stullen.
„Was machen die Leute dort nur alle? Letzte Woche erst hat mir die Judith davon erzählt. Du weißt schon, die junge Blonde aus der 10, die du so hübsch findest. Dann habe ich in der Bahn ein Gespräch im Nebenabteil zwangsbelauscht und nun kommt heute auch noch meine Schwester damit an. Angeblich hätte der Jörg dort seine Schulter dort nach nur drei Behandlungen in den Griff bekommen. Wer soll den sowas glauben, der hatte die Schmerzen doch schon seit vier Jahren.“
„Na das ist doch schön, wenn es ihm jetzt endlich wieder gut geht. Wie hieß denn die Praxis, in der er war? Ich könnte da auch mal hingehen mit meinem Tennisarm.“
„Meine Güte, jetzt sei doch mal ernst. Du weißt doch ganz genau, dass das totale Albernheit ist. Das sind alles Heilpraktiker, die haben doch überhaupt keine Ahnung von Medizin. Das weißt du und das weiß ich. Erinnerst du dich denn nicht mehr daran, wie Marta davon erzählt hat, dass sie bei der Niemeyer war und die ihr die Hand aufgelegt hat und gesagt hat, dass nun alles gut wird mit dem Magen.“
„Doch, ich erinnere mich daran. Und es war doch dann auch wirklich weg.“
Darüber geriet Sabine nun völlig in Rage und konnte sich nicht mehr zurückhalten.
„Aber doch nicht deswegen, weil die die Hand aufgelegt hat!“, rief sie empört, sondern weil der Arzt ihr schon eine Woche vorher vernünftige Magentabletten gegeben hatte. Du weißt schon, diese, die das Magenätzen wegmachen.“
„Ja, ich weiß“, sagte Klaus beruhigend, „vielleicht hat es ja zusätzlich geholfen, man weiß das ja alles nicht. Wir wissen so vieles noch nicht.“
„Ich denke, heute willst du mich echt wütend machen. Es gibt keine Heilung mit den Händen. Jeder, der das erzählt, ist ein Scharlatan und es gibt auch nichts, was Ärzte nicht könnten.“
„Ok vielleicht hast du recht, ich will darüber nicht mit dir streiten.“
„Ich habe das Gefühl, du weichst mir lediglich aus und willst nur einfach wieder kein vernünftiges Streitgespräch führen und denkst, ich könnte Unrecht haben.“
Sabine stand auf und räumte lautstark das Geschirr ab. Weil sie nicht wusste, wohin mit ihrer Energie, nahm sie den Müll und ging die drei Stufen vor dem Haus herab.
„So ein sturer Bock, ich kapiere einfach nicht, wieso er ständig diese Quacksalber verteidigt. Das sind doch alles bloss Menschen, die versuchen, einem das Geld aus der Tasche zu ziehen mit ihren ganzen esoterischen Ideen. Handauflegen, dass ich nicht lache, ich werde noch wahnsinnig, wenn ich darüber nur nach…“
Weiter kam sie nicht mit ihrem Gedanken, denn in diesem Moment glitt sie durch ein nasses Blatt auf der untersten Stufe aus und fiel auf den Po.
Stöhnend rappelte sie sich wieder auf. Sie lauschte in sich hinein und dachte: ‚verdammt, das hat ganz schön gescheppert, das wird sicherlich ein riesiger blauer Fleck, zum Glück sieht niemand meinen Hintern.‘
Und weil sie eine sehr stolze Frau war und zudem am Ende der Straße Fr. Sieber mit ihrem Hund erschien, brachte sie nach außen hin ungerührt den Müll die paar Schritte zur Tonne, und war auf dem Rückweg dankbar für ihre schwarze Hose. Es wäre ihr eine Schmach gewesen, von Fr. Sieber mit einer am Hintern schmutzigen Hose gesehen zu werden.
Das vorhergehende Gespräch mit ihrem Mann hatte sie bei ihrer Rückkehr in die Küche völlig vergessen, denn nun ereiferte sie sich lautstark darüber, wie es denn sein könne, dass sie ausgerutscht war. Und dass Laub im frühen September verboten werden müsse, denn damit könne man nicht rechnen, der Herbst beginne schließlich erst später.
In klaren Momenten war sie sich durchaus darüber im Klaren, dass sie zu viel nörgelte und nicht sie es war, die die Beziehung aufrecht erhielt, sondern ihr stets freundlicher Mann.
Im Scherz sagte sie oft zu ihm: „Ich halte unsere Beziehung lebendig. Wenn ich wäre wie du, würden wir vor Langeweile ersticken.“
Am nächsten Morgen hatte Sabine Schmerzen im Gesäß. Nach einer Woche klangen diese allmählich ab und Sabine vergaß den kleinen Sturz.
Drei Wochen später fingen die Kopfschmerzen an. Und was für Kopfschmerzen! Bohrend, dröhnend, durch nichts zu beeinflussen.
Sie begannen an einem Nachmittag Ende September nach einem anstrengenden Tag an der Kasse. Zunächst schob sie es auf zu wenig Schlaf und dann auf die neue Auszubildende, die ihr zugeteilt wurde und die ihr nicht pfiffig genug erschien.
„Kein Wunder, dass ich ständig Kopfschmerzen habe, du müsstest das Mädel mal erleben, die kann sich keine einzige PLU merken. Ich konnte die paar hundert Zahlen schon nach wenigen Tagen, aber ich war ja auch nicht so verzogen und hatte auch nicht ständig das Handy am Wickel“, empörte sie sich wieder einmal beim Abendessen.
Da ihre Kopfschmerzen abends stets schlimmer wurden, gab es bald kaum noch einen Tag, an dem sie nicht schlecht gelaunt wirkte. Die Nörgelei macht die Schmerzen nicht besser, aber so verschaffte sie sich wenigstens ein bisschen Erleichterung.
Die Schmerzen wurden ihr ein täglicher Begleiter. Sie versuchte alles, um sie loszuwerden.
Sie ging zum Hausarzt, der ihr Tabletten verschrieb. Als keinerlei Änderung eintrat, ging sie zu einer weiteren Ärztin, die ihr andere Tabletten verschrieb.
Als das nicht half, ging sie -nun überzeugt davon, einen Gehirntumor zu haben- zum Neurologen. Dieser verpasste ihr einen ordentlichen Dämpfer, in dem er meinte, alles sei völlig in Ordnung und sie solle anderen Patienten nicht die kostbaren Termine für ein MRT wegnehmen mit ihrer kleinen Lappalie. Außerdem möge sie aufhören zu jammern, denn sie habe nichts und solle froh darüber sein. Und wenn sie unbedingt wolle, dann könne sie ja mal zum Psychiater gehen, wahrscheinlich läge ihr Problem anderweitig zwischen den Ohren.
Nach diesem Termin war Sabine so schockiert über das Verhalten des Neurologen, dass sie keine Worte fand und sich wochenlang nicht mehr zu einem weiteren Arzt traute.
Es folgte „der Winter der Schmerzen“ wie sie es nannte. Mehrere Kollegen und Freunde rieten ihr, Alternative Heilmethoden auszuprobieren, aber davon wollte sie nichts wissen.
Irgendwann im Frühling, die Sonne schien bereits wärmer, traf sie bei einem weiteren Gang zum Müll auf Fr. Sieber, der sie ihre Odyssee erklärte. Da es für sie kaum noch ein anderes Thema als ihre Kopfschmerzen gab und niemand sonst mehr ihr zuhören wollte, nahm sie mit der Nachbarin vorlieb, mit der sie sonst selten sprach, weil diese ständig redete ohne zuzuhören.
Kaum hatte sie Fr. Sieber die Schmerzen kurz umrissen, sagte diese sofort: „Ich habe eine gute Idee. Sie müssen damit zu Hrn. Schnitter, der kann sicherlich helfen. Da gehen alle hin, das ist ein ganz toller Typ, der hat wirklich Ahnung, er erklärt einem auch immer, was er tut und letztens bei meiner Freundin Angelika hat er…,“ Atemlos wollte Fr. Sieber mit einem langen Monolog beginnen, aber Sabine unterbrach sie rüde: „Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst. Der ist doch Heilpraktiker! Ich habe keine Ahnung, was das bringen soll.“
Daraufhin antwortete Fr. Sieber lediglich schulterzuckend: „Dann lassen Sie es eben, mir ist es total egal. Ich verstehe nur nicht, was Sie zu verlieren haben, außer vielleicht den Preis der Behandlung.“ Dann ging sie- völlig untypisch, ohne ein weiteres Wort- ungerührt mit ihrem Hund weiter.
Das saß. Eine ganze Nacht lang lag Sabine wach. Zum Teil, weil sie wegen der Schmerzen ohnehin nicht gut schlafen konnte, zum Teil weil sie darüber nachdachte.
‚Es stimmt, ich habe nichts zu verlieren und die Schmerzen bringen mich noch um. Aber wie werde ich dastehen? Ich kann mich doch nirgends mehr sehen lassen, wenn das rauskommt. Niemand Gescheites geht zum Heilpraktiker und außerdem kennen doch alle Leute meine Meinung über diese Quacksalber. Aber wenn es helfen könnte, dann muss ich es doch probieren. Ich halte diese Schmerzen einfach nicht mehr aus. Oh Gott, aber wenn mich da einer hingehen sieht. Ich muss es heimlich machen, am besten tagsüber, wenn in der Kleiststr. nicht so viel Verkehr ist. Ich könnte nächsten Monat an meinem freien Dienstag hingehen, sodass mich keiner fragt, warum ich eine Schicht tauschen will.‘
Und so wand sie sich eine ganze Nacht lang, bis sie am nächsten Tag nach dem Griff zur nächsten hochdosierten Schmerztablette doch zum Telefon griff.
Einen Monat später in der Praxis war ihre Zerrissenheit körperlich spürbar. Sie ging im kleinen Warteraum auf und ab und war innerlich zerrissen. „Was soll das, warum bin ich bloß hier hergekommen“, sagte sie zu sich, „es wird mir nicht helfen und dann bin ich nicht besser als alle anderen, die auch an diesen Quatsch glauben. Zum Glück wartet hier niemand sonst. Man wird über mich lachen. Ich darf es nicht mal Klaus erzählen, sonst lächelt er mich wieder so milde an und ich weiß, dass er sich dann innerlich über mich lustig macht. Oh Gott, wenn ich mir vorstelle, dass meine Mutter mich hier sähe, ich könnte vor Scham im Boden versinken. Nicht umsonst hat man die alle im Mittelalter verbrannt. Weil sie Scharlatane waren, die niemandem geholfen haben und den echten Doktoren im Weg waren. Ja, Klaus würde jetzt wieder sagen, dass die Leute damals einfach Angst vor Heilern hatten und deswegen so brutal vorgingen, aber ich denke, das hätte sich ja nicht so durchgesetzt mit der Hexenverfolgung, wenn die Hexen wirklich hätten helfen können. Das war’s, ich denke, ich gehe wieder.“
Gerade, als sie sich zum Gehen wandte, kam Hr. Schnitter aus dem Behandlungsraum, erblickte sie bei ihrem Rundgang und sagte sehr freundlich: „Hallo. Die Toiletten sind dort rechts, wenn Sie müssen. Ich bin gleich für Sie da, ich verabschiede nur noch die Patientin.“
Da Sabine nicht gesehen werden wollte, war sie sehr dankbar dafür, auf die Toilette flüchten zu können und kam erst wieder heraus, als sie hörte, dass die Patientin den Vorraum verlassen hatte.
Dann folgte sie Hrn. Schnitter in den Behandlungsraum. Eine halbe Stunde lang befragt er sie nach ihren Beschwerden. ‚Was der aber auch alles wissen will’, dachte sie. Aber es gefiel ihr auch sehr, endlich jemandem alles in allen Einzelheiten zu erzählen. Welche Schmerzfärbungen die Kopfschmerzen zu verschiedenen Tageszeiten annahmen, was ihr half, welche Bewegungen es verschlechterten. Er wollte alles wissen und unterbrach sie nur für neue Fragen. Nie spielte er den Schmerz herunter wie ihre Kollegen oder stellte ihn in Frage wie der Neurologe. Schon das allein war eine Wohltat. Wann denn die Kopfschmerzen anfingen?, sie wusste es nicht mehr. Erst nachdem er fragte, ob sie einen Sturz gehabt habe, fiel ihr selbst der zeitliche Zusammenhang zu ihrem Treppensturz auf.
Die körperliche Untersuchung wäre ihr normalerweise peinlich gewesen, sie hatte sich extra ihre Glücksunterwäsche angezogen um es besser zu ertragen, aber durch das lange Erzählen ihres Leidens fasste sie so viel Zuversicht, dass sie die Untersuchung lediglich als interessant empfand. Hr. Schnitter erklärte zwar, was er tat, sie wollte aber nicht zugeben, dass sie kaum ein Wort verstand. Er sagte Sätze wie: „ich muss zur Vollständigkeit auch ihre Füße untersuchen, denn auch das kann sich wie eine Kette bis nach oben in den Kopf ziehen“.
Sie konnte sich nicht vorstellen, wie das gehen sollte, schaltete daher gedanklich einfach ab und war auch damit beschäftigt, zu erfassen, wie sich die gezielten Handgriffe im Körper anfühlten.
Die eigentliche Behandlung selbst war schnell erledigt. Hr. Schnitter fasste ihr in Bauchlage an das Steißbein und an das Kreuzbein und als sie später auf dem Rücken lag umfasste er für eine Weile ihren Kopf. Weil er dabei sehr behutsam war und sie plötzlich sehr müde wurde, schlief sie trotz leichter Kopfschmerzen einfach ein.
Nach der Behandlung fühlte sie sich benommen. Die Kopfschmerzen waren deutlich besser, aber sie war unendlich müde. Zum Glück hatte sie es nicht weit. Sie legte sich ins Bett, verschlief den kompletten Tag und die Nacht und wachte am nächsten Morgen ohne Kopfschmerzen auf. Im Laufe der nächsten Woche stellten sich noch einmal leichte Schmerzen ein, nach einer weiteren Behandlung war sie dauerhaft beschwerdefrei.
Sie konnte es nicht glauben und wartete weiterhin bange, ob der rasende Schmerz wieder auftreten würde. Aber er blieb weg, genau wie Hr. Schnitter es zum Abschied gesagt hatte. Außerdem schwieg sie viel und dachte nach. Sie konnte nicht begreifen, wie diese Heilung möglich war. Ihr war klar, dass keine Magie im Spiel war. Obwohl sie ja bis auf die Minuten der Kopfbehandlung die ganze Zeit dabei war,
fiel es ihr schwer, die behutsamen Berührungen mit der Schmerzfreiheit in Zusammenhang zu bringen. Wie sollte das denn gehen, dass man unten am Kreuzbein behandelt wird und schon dadurch die Schmerzen besser wurden.
Als ihre Kollegen allmählich merkten, dass sie viel weniger nörgelte und auch mit der Auszubildenden netter umging, fragten sie sie, was passiert sei. Sie lenkte jedoch alle Gespräche ab und wechselte das Thema, weil sie einfach nicht begreifen konnte, wie diese Heilung möglich war.
Hr. Schnitter hatte ihr zwar erklärt, dass das Kreuzbein über die Dura mit dem Kopf verbunden sei, die Dura durch den Sturz unter Spannung gestanden habe und daher alles anatomisch erklärbar wäre. Da sie jedoch nicht wusste, was diese Dura war, stellte sie sich vor, der Osteopath habe mit seinen Händen dieser ominösen Dura gut zugesprochen, damit sie nicht mehr so angespannt sein möge.
Das machte das Ganze in ihren Gedanken noch magischer. Und um so länger sie diese Bilder im Kopf hin- und her schaukelte, umso mehr war sie davon überzeugt, dass hier etwas außergewöhnliches, nicht erklärbares, ja geradezu scharlatanmässiges im Spiel gewesen sein musste. Und sie stellte weiterhin fest, dass ihr dieser Gedanke mit jedem Tag angenehmer wurde. Ausgerechnet ihr durfte so etwas außergewöhnliches passieren.
Drei Wochen später, Sabine und Klaus saßen beim Abendessen, sagte Sabine unvermittelt: „Was ich nicht verstehe, Klaus, ist, warum heutzutage nicht jeder zum Osteopathen geht. Es gibt doch so viele Störungen bei denen kein Arzt helfen kann, warum gehen die denn nicht einfach mal zu jemandem, der davon Ahnung hat?“
Frohvember
Seit drei Jahren läuft immer im November ein von mir ausgedachtes und moderiertes Spiel zu Fragen unseres bunten Lebens.
Ich liebe es, die unterschiedlichen Antworten zu lesen.
Escaperoom-Rätselspiel
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